René Stettler, Dr. phil.
Moderator - Dozent - Autor/Referent

 
Familie - Politik - Kunst

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In unregelmässigen Abständen publiziere ich auf dieser Seite Bilder und Geschichten aus dem “Familienarchiv”, die ich jeweils zeit- und gesellschaftskritisch sowie aus Distanz, die sich ergeben hat, beschreibe und kommentiere.

picDer Grossvater auf der anti-kommunistischen Politbühne nach dem 2. Weltkrieg
picDer Vater im anrüchigen Chicago der 1970er Jahre
pic“Heissumstrittene” Rooter Gemeinderatswahlen 1971
picEin Luzerner Regierungsrat und George Orwells Farm der Tiere


Religiöse Konflikte in der Familie

Es geht zunächst um in der Familie erfahrene religiöse Konflikte, Interessen und Spiele mit der Macht bzw. wie Einflussnahme innerhalb der Familie funktioniert und die Konsequenzen für das persönliche Leben. Der katholische Grossvater mütterlicherseits aus Ennethorw, Hauptkassier bei der Kantonalbank an der Luzerner Pilatusstrasse (zur in Luzern 1961 entstandenen Photographie mit einem Militärgeneral aus Fernost und einem südamerikanischen Marschall mehr weiter unten), und die Grossmutter väterlicherseits, protestantische Bäuerin aus dem luzernischen Meierskappel mit Wurzeln im bernischen Emmental, willigten ca. 1953/54, nach einem denkwürdigen familiären Disput - einem nicht offen ausgetragenen Glaubensstreit -, in die “Mischehe” der Eltern ein. Zu dieser Zeit war das ein grosser Bruch mit damals in der Regel nur selten infrage gestellten gesellschaftlichen Konventionen, was zum Beispiel die religiöse Zugehörigkeit betraf. Man heiratete eben innerhalb der Kirche, der man von Geburt an ungefragt angehörte. Das war seit Jahrhunderten in der Schweiz meist die katholische oder die protestantische. Auch nach dem 2. Weltkrieg, über den der Grossvater und die Grossmutter uns Enkeln gelegentlich Geschichten über dörfliche Armut, materielle Entbehrung sowie ihre Ängste während des Kriegs und seinen politischen Wirren erzählten.

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picAls Jugendlicher und “Nach-Achtundsechziger” war ich mit vielen anderen in meinem Alter hin- und hergerissen zwischen linken Ideen (Marxismus, Maoismus) und Rockmusik - und dem amerikanischen und britischen Blues. “White Room” der britischen Rockband “Cream” war eines meiner Lieblingsstücke. Den britischen Bluesmusiker John Mayall (geb. 1933) verehrte ich als grossartigen Wegbereiter der Improvisation. Politik als Spiegel kollektiver Orientierungen und Handlung geriet erst spät in meinem Leben in den Fokus der intellektuellen Auseinandersetzung. Als ich, schon über 50-jährig, an einer britischen Universität über die mit kultureller Arbeit verbundenen Werkzeuge und Verfahren für ökologisches, ethisches und demokratisches Handeln zum Dr. phil. promovierte:
The Politics of Knowledge Work in the Post-Industrial Culture.


Protest mit den Mitteln der Kunst

Als Marxist wollte ich nie enden, aber es gab seit der Jugend ein Misstrauen gegenüber institutionalisierter Macht und Politik, wie es Jugendliche heute haben - und einen untrüglichen Instinkt für den Missbrauch von Macht. Was ich schon damals verstanden hatte, war, dass wenn man Veränderungen durchsetzen will, das System selbst ändern muss. Der Aufstand der Eltern für eine Ehe, für die eine bedingungslose Verbundenheit von zwei sich liebenden Menschen das Wesentliche war, provozierte meine Abneigung und Rebellion gegen als unabänderlich akzeptierte gesellschaftliche Verhältnisse und Verhaltensnormen. Zunächst blieb es beim Protest mit den Mitteln der Kunst; im späteren Leben suchte ich nach neuen Formen des Widerstands.

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Bild oben: Video-Still (s/w Ausschnitt) einer legendären Luzerner Performance mit über hundert geladenen Gästen sowie vielen erstaunten Zaungästen, zusammen mit dem Luzerner Künstler Hansruedi Ambauen (1931 - 2019) und dem Schlagzeuger Hannibal Buri (geb. 1963), Habsburgerstrasse, gefilmt vom Schweizer Künstler Christoph Rütimann (geb. 1955).
Gezeigt im Rahmen einer Ausstellung im Kunstmuseum Luzern (19.1. - 17.2.2008), "Labor Sammlung": Video, IV Rezeptionsgeschichte - Zur Geschichte der Videokunst in Luzern von 1970 bis 1990; Kunstmuseum Luzern (Hrsg.),
Christoph Lichtin (Red.); Zeitdokument Kunst im öffentlichen Raum in Luzern. 1983 waren die allerersten portablen Video-Kameras (VHS) verfügbar und auch in der Luzerner Kunstszene begann man damit zu experimentieren und nutzte sie für dokumentarische Zwecke.

Das Video wurde am 4. Februar 2024, 41 Jahre später, auf dieser Webseite publiziert. © René Stettler und Galerie “Nanu”, 1983 sowie teilnehmende Künstlerinnen und Künstler. Mehrere im Video erscheinende Personen sind schon verstorben. Der Auftritt der Luzerner Stadtpolizei war ungeplant.

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Die von Erfahrungen in der Megalopolis New York angehauchte Performance scheinen mir rückblickend auch auf den Buddhismus zu verweisen: Eine inszenierte Fotografie mit dem Titel
An empty yellow box war Teil der begleitenden Ausstellung in der Galerie “Nanu” an der Luzerner Habsburgerstrasse.

Presse

"(...) Plötzlich gemahnte die Szene an New York: Ein Polizeiwagen stoppte mit quietschenden Rädern. Zwei Polizisten stiegen aus und wolten die Vernissage stoppen, drohten mit Folgen bei Abhaltung der Performance auf der Strasse. (...)", Luzerner Tagblatt 17.6.1983

"(...) Offensichtlich hatte ein Nachbar zum Fenster hinausgeschaut und festgestellt, dass da vor seiner Tür sich ein anderer Anblick bot, als die restlichen 364 Tage des Jahres und die Polizei alarmiert. (...)", Luzerner Neuste Nachrichten, 22.6.1983

"(...) In 'THE STARTING ROCKET', wo der Luzerner Wasserturm im Glasgehäuse fotografiert ist und in der Zeichnung zum Text, in der der Wasserturm wie eine Rakete davonfliegt, wirkt die Erfahrung Stettlers mit unbekannten Räumen - das 'Schwimmen' und 'Fliegen' darin - besonders drastisch. (...)", Vaterland, 6.7.1983

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pic "Zwei Luzerner in New York", Inge Sprenger Viol, Brückenbauer, 4.1.84.


s/w Photo unten (Ausschnitt): © René Stettler, 1975; Atom Burst (Atomexplosion) von Roy Lichtenstein, 1965, Acryl auf Holztafel, 61x61 cm, Collection of the Modern Art Museum of Fort Worth.
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Lange Haare: nur ästhetisch effektvoll

Lange Haare als Emblem der 1968er-Bewegung schwappten als Protesterscheinung mit den Beatles auch in die Schweiz über. Die Mutter war gegen “Pilzchöpf” und “dönni Fäde”, wie sie meine mich “zom Meitli” machenden schulterlangen Haare zu nennen pflegte. Es war wahrscheinlich der erste grosse emotionale und politische Kampf (wenn ich mich so ausdrücken darf), den ich - wenn auch nur in einem familiären Zerwürfnis - klar zu meinen Gunsten entscheiden konnte. Hippie-Frisuren interessierten mich aber nur für kurze Zeit - vielleicht zwei Jahre lang. Für mich war offensichtlich, dass es sich dabei um eine ihre Wirkung - als Zeichen des Widerstands gegen die westliche Spiessergesellschaft und das “Anderssein” - rasch verlierende Modeerscheinung handelte. Ein optisch wirkungsvoller Protest, der - in meiner damaligen Wahrnehmung - einzig ästhetisch effektvoll war, jedoch in der Sache nicht viel taugte, wollte man effektiv etwas verändern.


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Der Grossvater auf der anti-kommunistischen
Politbühne nach dem 2. Weltkrieg

Die Photographie ist auf eine bestimmte Weise von historischem Wert. Sie zeigt zwei händeschüttelnde Menschen: einen Militärgeneral asiatischer Herkunft links und einen älteren Mann rechts, dessen markantes Profil ihm etwas von Würde und öffentlicher Repräsentanz verleiht. In der Mitte zwischen den Figuren steht ein dritter feierlich gekleideter, kahlköpfiger Mann mit Brille, der dem Handschlag mit Wohlwollen beiwohnt. Der Blick des dritten Mannes ist eher auf den oder die Photographen vor ihm gerichtet. Im Hintergrund sind Menschen zu sehen, deren verschwommene Gesichter vorwiegend asiatischen Ursprungs sind. Viele haben Beifall klatschend die Hände erhoben und scheinen ihrer Freude über das Geschehen Ausdruck zu verleihen. Über die Lippen des asiatischen Generals scheinen Worte der Begrüssung zu kommen. Auf der Photographie ist konturenhaft eine zweite Hand zu sehen, die dem Mann rechts gehört (Bildausschnitt unten). Es handelt sich bei dieser zweiten unsichtbaren Hand, die sich auch dem dritten Mann symbolhaft entgegenstreckt, vermutlich um eine unbeabsichtigte Doppelbelichtung. Wer sind die Protagonisten? Was ist der historische Kontext des Bilds?

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1961 wurde in Luzern der  “Doppelzehnte” gefeiert. Der 10.10. ist der immer wieder variierende nationale chinesische Feiertag, der an die republikanische Bewegung in China und an einen Zwischenfall in einem Munitionslager in Wuhan erinnert, in den republikanische Revolutionäre vor Ort involviert waren. Der Mann links ist General Ho Jing-tschin (1890 - 1987), der während des zweiten Weltkriegs Oberbefehlshaber der chinesischen Truppen und der letzte Ministerpräsident Chinas vor der Machtübernahme der Kommunisten war. Er nahm das Schwert der japanischen Kapitulation am Ende des 2. Weltkriegs entgegen. Die anwesenden Chinesinnen und Chinesen aus Taiwan hinter ihm waren in Luzern Ehrengäste, als 1961, in Anwesenheit von Mitgliedern der schweizerischen Bundesversammlung und kantonaler Parlamente, ein öffentlicher Anlass gegen “Defaitismus, Spaltung und Kommunismus” stattfand. Das “Vaterland”, die damals führende katholische Zeitung der Zentralschweiz, schrieb: “Wo der Weltkommunismus an vielen Fronten wie in Afrika und Südamerika hauptsächlich Chinesen für sich arbeiten lässt, treten nun zum ersten Mal in der Geschichte der ideologischen Auseinandersetzung Vertreter des Freien China mit einer bahnbrechenden Botschaft auf den Plan”. Luzern stand für einen kurzen Augenblick im Fokus der Weltöffentlichkeit, mit einer moralisch-politischen Botschaft, die für die “freie Welt” und gegen den Kommunismus bestimmt war. General Ho Jing-tschin und der ihm gegenüberstehende brasilianische Marschall Juárez Távora (1898 – 1975), ebenfalls ein General, der in der Öffentlichkeit konservative Militärs und zivile Organisationen repräsentierte, trafen sich in Luzern.

Hinter diesem Treffen stand eine internationale Bewegung, die “Moralische Aufrüstung”, die die ganze Welt erfassen sollte. Die MRA (Englisch: Moral Re-Armament) machte von sich reden, holte Menschen aus aller Welt zusammen, mobilisierte Millionenbeträge und gewann Prominente für ihre Propaganda. Die Bewegung betrieb in der Schweiz grössere Werbekampagnen als mancher Industriekonzern und eroberte mehr Zeitungszeilen und Rundfunkminuten als vergleichbare andere Organisationen. Ihr Begründer war Frank Buchman (1878 - 1961), ein protestantischer US-Amerikaner, der in jüngeren Jahren längere Zeit für kirchliche Kreise in Asien tätig gewesen war und ab 1921 begann, an britischen Universitäten Anhänger für seine auf Sündenbekenntnis und Hypnose basierende Bewegung zu werben, die zu den Vorläufern der MRA gehörte.

Zurück zur Photographie. Am 29. November 1960 wurde mein Grossvater mütterlicherseits - der dritte Mann auf dem Bild - zum neuen Präsidenten des Grossen Rates des Kantons Luzern gewählt. Als Ratsmitglied gehörte Hans Lehner (1900 - 1972) seit 1951 der konservativen Fraktion an. Als gewählter Ratspräsident trat er an diesem öffentlichen Luzerner Anlass als 61jähriger Politiker in Erscheinung. Der Grossvater, so trage ich ihn in Erinnerung, war ein aufrechter Katholik und christlichen Werten verpflichtet. Der Auftritt an diesem historisch-politischen Luzerner Grossanlass war für ihn vermutlich aber mehr als nur religiöse Kür. Als Ratspräsident vertrat er öffentlich demokratische Werte und repräsentierte das Luzerner Kantonsparlament zu Beginn des zweiten Jahrzehnts nach dem Ende des 2. Weltkriegs.

Der Auftritt des Grossvaters im Rahmen der “Moralischen Aufrüstung” wirft aus der zeitlichen Distanz von über einem halben Jahrhundert auch Fragen auf. Wichtig war ihm zweifelsohne die Setzung eines öffentlichen Zeichens gegen den Kommunismus sowjetischen Zuschnitts, dem Schreckensgespenst des Westens in der Nachkriegszeit. Aber hat er sich auch mit der Ideologie von Frank Buchman in ihrer ganzen Tragweite auseinandergesetzt? Das zentrale Motiv der MRA gründete in der Idee, dass zunächst jeder einzelne Mensch versuchen sollte sich selbst zu ändern und zu bessern, indem er die Gebote der “natürlichen Sittlichkeit”, wie nachzulesen ist, erfüllt. In der Präambel zur Eintragung der MRA als öffentliche Körperschaft heisst es: “Unser Ziel ist die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden in Herz und Willen der Menschen überall, der Neubau einer Welt, frei von Hass Furcht und Gier. Unser Lohn liegt in der Erfüllung des Willens Gottes”. Buchmans Ideologie setzte sich zum Ziel, die aus christlichen Werten wie Liebe und Selbstlosigkeit geborene Idee des Widerstands dem Kommunismus entgegenzusetzen und zu verbreiten, um ihn mit religiöser Überzeugung zu bekämpfen.

Das ist der moralische und religiös-politische Überbau dieser historischen Aufnahme mit internationalen Vertretern aus Militär, Poltik und kirchlichen Kreisen in der der Grossvater auf der anti-kommunistischen Bühne der Schweizer Nachkriegspolitik stand. Als Vertreter des konservativen und christlich-katholischen Lagers der Luzerner Politik wohnte er dem Handschlag von General Ho Jing-tschin und Marschall Juárez Távora im Blitzlicht der internationalen Presse bei.

Photographien oben (Ausschnitte) © MRA Illustrierte, Nr. 26, 1961, im Artikel “Eine Sturmflut von Hoffnung”. Der Artikel erschien in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”, dem Luzerner “Vaterland”, der “Tribune de Genève”, der London “Times”, der “New York Times” und anderen Zeitungen in aller Welt.


Photographie (Ausschnitt) © René Stettler, Downtown Chicago, ca. 1978
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Der Vater im anrüchigen Chicago der 1970er Jahre

Für mich ohne Zweifel ein politisches Bild aus dem fernen Amerika, genauer gesagt aus Chicago - aufgenommen ca. 1978. Es handelt sich um einen Schnappschuss von einer der belebtesten Strassen in downtown Chicago. Er zeigt Polizeibeamte im Gespräch mit Passanten und Menschen, die dicht gedrängt an einem Kaufhaus vorbeieilen - unter ihnen mein 50jähriger Vater mit Schnurr- und Kinnbart. Damals experimentierte ich mit einer 35mm-Kamera Marke Konica, mitsamt Zoomlinse und Schwarzweiss-Diafilmmaterial. Ich war ausgesprochen unkonzentriert als ich diese Photographie schoss, da ich mich von dem einen Polizisten mit schwarzer Hautfarbe beobachtet fühlte. Die Aufnahme gelang, allerdings mit allgemeiner Unschärfe, sodass nun auf ihr einzig das Gesicht eines Passanten rechts im Hintergrund, das bestens erkennbar ist, scharf gezoomt ist.

Es war einer jener besonderen Augenblicke an der Seite meines Vaters, wo wir im Ausland bisweilen Zeit fanden, gemeinsam über die Welt zu philosophieren. Darüber, was beide gerade mit eigenen Augen sahen und dachten. Unter Einschluss der Kontemplation von Erfahrungen aus der schönen, aber manchmal als etwas eng empfundenen Schweiz. Jene ganz menschlichen Erfahrungen des Vaters und Kommunalpolitikers und seine Sorgen, die schon in der damaligen Zeit oft der unter die Räder gekommenen Umwelt und dem ungebremsten Wirtschaftswachstum bzw. dem übermässigen globalen Ressourcenverbrauch galten. Und jene des knapp 23jährigen Mannes, der unbekümmert auf Reisen in der weiten Welt unterwegs war. Dass schon ein paar kurze Jahrzehnte später täglich in den Medien über Produktion, Konsum, Mobilität und masslos gestiegene Treibhausgasemissionen diskutiert und debattiert würde - Kritik aus den Reihen politischer Akteure von links bis ganz rechts an bislang unhinterfragten Prämissen wie wirtschaftliche Gewinnmaximierung miteingeschlossen - das hätten weder ein Vater noch ein Sohn vor 40 Jahren auf Reisen in Amerika vorausahnen können.

Noch ein Zusatz. Mein Vater politisierte für die FDP im ländlichen Root bei Luzern als Gemeindepräsident im 7. Amtsjahr (es sollten noch 13 weitere Amtsjahre folgen) und er war zum ersten oder zweiten Mal fernab der Heimat unterwegs, auf einer mehrwöchigen Reise. Das städtische Amerika - Urban America - faszinierte ihn. Wir befanden uns auf dem Weg zu Verwandten im US-Staat Wisconsin und hatten im Mietauto einen Abstecher nach Chicago gemacht. In jenes Chicago, dessen geschönte Kriminalstatistiken im Zeitalter des Internets heute gar für globale Schlagzeilen sorgen. In das grossstädtische Chicago, wo Anklagen gegen Cops, die es mir gelang im Dienst zu photographieren, zum Alltag gehören. Allein zwischen 2005 und 2010 gab es in der amerikanischen Millionenmetropole Dutzende Verfahren wegen Korruption, Betrug, Drogengeschäften, Mordplänen gegen andere Polizisten, Informationsweitergabe an Gangs und die Mafia sowie Versuche, Bürgern Straftaten anzuhängen (Spiegel Online 25.2.2015). Was wohl fühlte, dachte und nahm mein Vater beim Besuch dieser anrüchigen Stadt mit ihren riesigen Wolkenkratzerschluchten wahr - in dieser für uns Neulinge aus der wohl behüteten Schweiz schwer lesbaren Megalopolis, die seit langem Hochburg der demokratischen Partei der USA ist - und worum mag sich die Unterhaltung der Polizisten mit Passanten gedreht haben?


Titelseite (Ausschnitt) des Luzerner Tagblatts vom 19. Juli 1971, Nr. 164
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“Heissumstrittene” Rooter Gemeinderatswahlen 1971

Dass es die Wahl eines Luzerner Gemeindepräsidenten 1971 auf die Titelseite des “fortschrittlich-liberalen” Luzerner Tagblatts schaffte, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass damals im Luzernischen Root eine nicht unwesentliche politische Kräfteverschiebung stattgefunden hat. Denn im Kanton Luzern war die christlichdemokratische Volkspartei (VP) in den Gemeinden vielfach jene Partei, welche - aufgrund ihrer Stärke - das Präsidialamt und auch die Finanzen für sich beanspruchte. Die Koinzidenz mit dem Titelbericht über die Begegnung in Peking zwischen Henry Kissinger (auf dem “Funkbild” links), damals Sonderberater von US-Präsident Richard Nixon, und dem chinesischen Ministerpräsidenten Tschu En-lai (rechts), war natürlich zufällig. Der Wahl meines Vaters zum Gemeindepräsidenten war eine äusserst hitzige Kampfwahl vorangegangen, mit Unregelmässigkeiten auf dem Rooter Urnenbüro, was gar zur Intervention des kantonalen Justizdepartementes geführt hatte. Aber alles der Reihe nach.

Vier Jahre zuvor war mein Vater in den Rooter Gemeinderat gewählt worden. Als “Verwalter” beschäftigen ihn der Gewässerschutz, Abwassereinigung, der Schutz des Trinkwassers (“vorab dringlichster Auftrag”; nicht datierte handschriftliche Notiz für ein Interview im Luzerner Tagblatt, 1967) sowie die Abfallentsorgung und andere Themen. Bei den anstehenden Arealplanungen ging es ihm um Abwägungen: Wo sollte dereinst eine Abwasserreinigungsanlage gebaut werden? Die in dieser Sache von meinem Vater in den Medien vertretene Meinung des Gemeindrats war, das in Betracht gezogene Stück Natur entlang der Reuss, wo die “ARA” geplant war, als Erholungsraum zu erhalten. Aufgewachsen als Bauernbub ob Meierskappel behandelte er den Schutz der Natur in jeder Hinsicht prioritär - ein Anliegen, das wir in der Familie oft zu hören bekamen.

In den Luzerner Neueste Nachrichten (28.5.71; S. 13) wurde der noch amtierende Gemeinderat zwar als “amtsmüde” kritisiert, weil er es u. a. versäumt habe “zu längst hängigen Fragen” (z.B. den Strassenbau) Stellung zu nehmen und ein Budget vorzulegen. Nun hatten gleich vier Gemeinderäte, darunter auch der Gemeindeammann und -präsident, ihren Rücktritt - wohl auch aus Altersgründen - angekündigt. Die überparteiliche LNN kritisierte im Bericht sogar die Rooter Gemeindeversammlung mit der Überschrift “Kein Sinn für soziale Aufgaben”. Das war die damalige Ausgangslage für die Wahl von vier neuen Rooter Gemeinderäten und den Kampf um das Gemeindepräsidium durch die Liberale Partei. Zusätzlich kräftepolitisch pikant: Anlässlich der Grossratswahlen erhielt die Volkspartei 58 Prozent der Stimmen, während die Liberalen unter die 30 Prozent-Grenze zurückgefallen waren.

Am 2. Juni 1971 stellte das katholische Vaterland (S. 16) den Kandidaten der VP für das Gemeindepräsidium vor und schloss den Bericht mit den Worten: “Auch die liberale Partei stellt (...) zwei qualifizierte Kandidaten”. Am gleichen Tag kommentierte das Tagblatt (S. 17) die Kandidatur meines Vaters: “Er wird im neuen Rat der einzige sein, der über alle hängigen Probleme einwandfrei Bescheid weiss. Seine Wahl zum Gemeindepräsidenten drängt sich geradezu auf. Hoffen wir, dass die Wählerschaft am nächsten Sonntag den richtigen Entscheid treffen wird”. Die LNN (“Kampfwahl um das Gemeindepräsidium”; S. 14) stellte am 3. Juni alle fünf Kandidaten und ihre politischen Grundhaltungen und Pläne vor: “Fünf Köpfe, fünf Ideen. Alle aber sind sich darin einig, dass die Reorganisation der Gemeindeverwaltung und eine solide Finanzplanung (...) unbedingte Erfordernisse sind (...)”.

Das Ende der “heissumstrittenen” Gemeinderatswahlen 1971 in Root kann kurz so zusammengefasst werden: In einer Untersuchung gab der “der VP nahestehende” Gemeindeschreiber zu, bei den Wahlen für das Gemeindepräsidium eigenhändig drei Wahllisten zum Nachteil des liberalen Kandidaten “gefälscht zu haben”. (Luzerner Tagblatt, 5.7.71; “Letzte Meldungen”) Der Regierungsrat hatte inzwischen die Wahl aufgehoben und Neuwahlen angesetzt. Keiner der beiden für das Amt des Gemeindepräsidenten Kandidierenden hatte beim ersten Wahlgang das absolute Mehr erreicht. Nach dem zweiten Wahlgang berichtete das Tagblatt am 19. Juli (S. 8): “In der vom Regierungsrat (...) angesetzten Wahl des Gemeindepräsidenten von Root ist der Liberale Karl Stettler mit 533 Stimmen ehrenvoll gewählt worden”. Der Gegenkandidat der VP erhielt 484 Stimmen. Das absolute Mehr betrug beim 2. Wahlgang 510 Stimmen. Der Rooter Gemeindeschreiber wurde zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Kommentar des Tagblatts erfolgte am Dienstag nach dem Wahlwochenende: “An der Tatsache, dass der liberale Kandidat Karl Stettler (...) dennoch zum neuen Gemeindepräsidenten gewählt worden ist, änderte das freilich nichts (gemeint ist die Änderung von drei Wahlzetteln durch den Gemeindeschreiber; meine Anmerkung) - es sei denn, diese Wahlzettelmanipulation habe die Wahl Karl Stettlers eher noch gefördert”. (20.7.71; S. 12)

Die Wahlturbulenzen gingen nicht spurlos an der Familie vorbei. Der Vater verhielt sich menschlich gegenüber dem Gemeindeschreiber. In der Familie fand keine erschöpfende Diskussion statt, ob dieser nun “schuldig” oder die angebliche “Affekthandlung” (Luzerner Tagblatt, 5.7.71; “Letzte Meldungen”) entschuldbar sei (im Sinne des Gesetzes wurde er ja schuldig gesprochen). Hingegen gewann ich den bis heute gebliebenen Eindruck, dass die Angelegenheit von beiden Elternteilen insgesamt als gravierend und verwerflich gesehen wurde. Das prägte die moralischen Empfindungen eines 16jährigen und ich würde gar sagen, es sensibilisierte mich auch in beträchtlichem Masse für das Unrechtmässige und Unzulässige, das Unstatthafte und Strafbare. In späteren Jahren war mir daher umso klarer, wie prägend familiäre Ereignisse für das ganze Leben sein können, obschon in unserer Familie über Vieles selten ellenlange Auseinandersetzungen geführt wurden. Rückblickend scheint mir die Erkenntnis bedeutungsvoll, dass Erlebtes in der Kindheit und Adoleszenz für die Wahrnehmung viel umfassenderer sozialer Zusammenhänge und die Bewertung eigener Erfahrungen elementar ist. Dazu gehörten und gehören für mich selbstredend die eigenen biografischen Wurzeln, die Schicksalsschläge anderer, die Unwägbarkeit menschlicher Beziehungen, das Mitgefühl mit Gestrauchelten oder gar Gefallenen, unsere Widersprüchlichkeiten im Umgang mit der natürlichen Umwelt und ihren begrenzten Ressourcen – und nicht zuletzt auch eine immer in Betracht zu ziehende Selbstkritik.


Seite 19 (Ausschnitt) des Vaterlands vom 6. Mai 1971, Nr. 104
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Ein Luzerner Regierungsrat und George Orwells Farm der Tiere

Dieser Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 1971 in der katholischen Luzerner Tageszeitung Vaterland hat zwar nicht direkt mit einem politischen Engagement in der Familie zu tun, aber mit einem Menschen, den ich gut kannte und bis heute in respektvoller Erinnerung behalte.

Als der für die christlichdemokratische VP politisierende Rooter Tierarzt Karl Kennel (1929 - 1998) 1971 demokratisch gewählter Vorsteher des kantonalen Sanitäts- und Fürsorgedepartements wurde, feierte Root “seinen” Regierungsrat (einen “gewitzten, schlagfertigen und gründlichen zukünftigen Regierungsmann”, wie im Vaterland stand). Als knapp 19jähriger war ich ein halbes Jahr Kennels “Englischlehrer”. Dieser Job kam durch die Vermittlung meines Vaters zustande, der mit Karl Kennel über das Rooter Vereinsleben befreundet war. Ich glaube, es waren die zu jener Zeit popuären Schützenfeste an denen beide oft teilnahmen und das Schiessen war vermutlich das, was sie zusammengebracht hatte.

Auf Vermittlung des Vaters durfte ich in den Schulferien mit Karl Kennel verschiedene Male auf “Tierarztvisite” zu den Bauern. Der Beruf des Veterinärs übte auf mich eine unbestrittene Anziehung aus. Einem waschechten Tierarzt zu assistieren, bei allen möglichen Eingriffen in das Tierleben, das war schon einigermassen abenteuerlich und in jener Zeit eine spezielle Erfahrung. Ich lernte dabei Einiges über Menschen und ihren Umgang mit Tieren. Für ein ernsthaftes Studium ging mir aber das Leiden der Tiere und das viele Blut, das ich zu sehen bekam, einfach zu nahe.

Karl Kennel lernte ich als bauernschlauen, witzigen, offenen und selbstkritischen Menschen kennen, mit dem ich über fast alles austauschen konnte, über Fragen des Lebens, den beruflichen Findungsprozess, die Politik und vieles andere. So kam es, dass ich während ein paar Monaten im Ritterschen Palast, wo die Luzerner Regierung ihren Sitz hatte, ein- und ausging. In jenem Teil des Gebäudes, das die Jesuiten in der zweiten Hälfte des 16. Jahhunderts erbaut hatten, las ich mit Karl Kennel englische Texte, erörterte diese mit ihm und kommentierte Wortbedeutungen, Sätze und Inhalte mit meinen rudimentären, offenbar geschätzten Kenntnissen der englischen Sprache. Ich bereitete mich stets gut vor, für jede Lektion, das weiss ich noch heute! Denn die Fragen meines “Studenten” waren oft knifflig und die Antworten hatten in jedem Fall pausibel zu sein. Ich wollte mich nicht blamieren!

So verbrachte ich ein paar Stunden wöchentlich im Büro eines amtierenden Regierungsrats und führte - meistens über Mittag - literarische Gespräche auf Englisch. Nur schattenhaft ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben, wie es überhaupt dazu kam, dass die Idee Anklang gefunden hatte, George Orwells 1945 erschienene dystopische Fabel Farm der Tiere (Animal Farm) gemeinsam zu lesen. Vermutlich spielte der Bekanntheitsgrad des Textes eine nicht unerhebliche Rolle. Ebenfalls nicht klar rekonstruierbar ist, in welchem Ausmass ein intellektueller Austausch auf einer Metaebene stattfand und wir Diskussionen über die Erhebung der Tiere gegen die Herrschaft ihres menschlichen Besitzers, der sie vernachlässigte und ausbeutete, geführt haben. Vielleicht endete der Englischunterricht auch beim Ausbruch der Gewaltherrschaft der Schweine, die ja viel schlimmer endete als diejenige, welche die Tiere abschütteln wollten.

Im Rückblick und aus zeitlicher Distanz erscheint mir diese Begegnung insgesamt als ziemlich unwirklich: Ein aus liberalem Hause stammender junger Mann bespricht mit einem christlichdemokratischen Regierungsrat eine Parabel auf die Geschichte der Sowjetunion, deren Grundlage Josef Stalins Wahnvorstellungen vor Verschwörungen bildete, die brutale Säuberungen zu Folge hatten. Und das auf Englisch! Für ein Gespräch über Klassenkampf und die Herstellung von Bezügen zu aktuellen poltitischen Entwicklungen, hat mein Wissen zu jener Zeit nicht ausgereicht. Wohl eher aber, um über ungerechte Strukturen der Macht auszutauschen, die mich beschäftigten. Obschon der Kopf voller Ideale war, die mich schon während der Adoleszenz begleiteten.

neu erstellt 2024

© Photos und Bildmaterial: Courtesy: Abgebildete Personen, Dr. René Stettler GmbH, Neue Galerie Luzern - Swiss Academic Association (NGL - SAA), Roberto Conciatori, Felix von Wartburg, Luzern.